echt behindert

Initiative für mehr Verständnis für Menschen mit Behinderung

Wir finden es echt behindert, dass so viele Menschen immer noch so wenig über Menschen mit Behinderung wissen. Das wollen wir mit dieser Seite ändern. Ihr findet hier ein paar Informationen über die wichtigsten gesellschaftlich-politischen Meilensteine im Umgang mit Menschen mit Behinderung und ihr könnt ein ein paar Lebenslinien von Menschen mit Behinderung nachlesen. Die Meilensteine und die Lebenlinien sind die Ergebnisse eines abgeschlossenen Projekts der Lebenhilfe Esslingen.


Eine Initiative von Sven Seuffert-Uzler

Meilensteine

Von den Nazis verfolgt

1940-1945: Unglaublich, was sich in jüngerer Geschichte im Umgang mit Menschen mit Behinderung ereignete. Unter der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten mussten in Deutschland nicht nur Juden, politisch anders Denkende oder Homosexuelle leiden. Auch Menschen mit Behinderung waren den Nazis ein Dorn im Auge. Im Zusammenhang mit dem sogenannten Euthanasie-Programm wurden in den Jahren 1940 bis 1945 über 70.000 Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung ermordet. Die Nazis begründeten die Morde damit, dass es sich bei den Opfern um „unwertes Leben“ handle. Der Massenmord an den Menschen mit Behinderung wird auch als Aktion T4 bezeichnet – benannt nach der zentralen Stelle im Berliner Tiergarten, die die Morde koordinierte. Aus heutiger Sicht sind die Verbrechen der Nazis an Menschen mit Behinderung historisch der Phase der Segregation zuzurechnen. Sie beschreibt die gesellschaftliche Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung, die bei den Nazis sogar bis zu ihrer Tötung führte.

Einführung der Schulpflicht

1960: Die Schulpflicht für Menschen mit Behinderung wird in Deutschland rechtlich verankert. Die erste Schule speziell für Menschen mit einer geistigen Behinderung wurde jedoch erst 1965 in Frankfurt am Main gegründet (Schulen spezielle für körperlich Behinderte gab es auch schon früher). Trotzdem stellt die rechtliche Regelung eine wichtige Grundlage dar, die heute erfolgreich dabei hilft, dass es weniger Vereinsamung und Ausgrenzung für Menschen mit Behinderung gibt. Die Idee, Menschen mit Behinderung überhaupt zu unterrichten, geht auf die Anfänge des 18. Jahrhunderts zurück. Damals wurde die Disziplin noch „Idiotenerziehung“ genannt. Wie alle Bildungsangelegenheiten ist auch die Schulpflicht für Menschen mit Behinderung Ländersache. In Ausnahmefällen sind Schwerbehinderte von der Schulpflicht befreit. Diese Phase wird als Phase der Integration bezeichnet, da Menschen mit Behinderung hier erstmals der Weg in die Zivilgesellschaft eröffnet wurde.

Öffnung der Arbeitsmärkte

1974: Der Arbeitsmarkt öffnet sich für Menschen mit Behinderung. Das regelt die 3. Novelle des Bundessozialhilfegesetzes und bedeutet, dass man als Mensch mit Behinderung nicht nur die Möglichkeit auf Arbeit hat, sondern auch Arbeitnehmerrechte. Das führte zum Beispiel dazu, dass Menschen mit Behinderung bei Stellenausschreibungen nicht benachteiligt werden dürfen. Gleichzeitig haben Behindertenwerkstätten die Pflicht, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Der Maßnahmenkatalog der Novelle sieht vor, dass Menschen mit Behinderung ein so selbstständiges Leben führen können wie nur möglich. Hierbei wird gefordert, dass sie von der Geburt bis zum Ruhestand von der Gesellschaft speziell betreut und begleitet werden und auch Rechtsansprüche von Menschen mit Behinderung formuliert. Wissenschaftlich betrachtet beginnt an diesem Punkt die Phase der Inklusion. Diese Unterscheidet sich von der Integration dadurch, dass Menschen mit Behinderung hier erstmals als vollwertige Gesellschaftsmitglieder betrachtet wurden.
„In der Behindertenwerkstatt begann mein soziales Leben“, Rosemarie Plattenhart

Behindertsein in der DDR

1989: Mit dem Mauerfall, als Ost- und Westdeutschland 1989 wiedervereinigt wurde, sahen sich beide Länder auch mit einer unterschiedlichen Vergangenheit im Umgang mit Menschen mit Behinderung konfrontiert. Untersuchungen kommen bei der Frage, ob der Umgang mit Betroffenen in der BRD oder der DDR besser war, zu unterschiedlichen Ergebnissen. Professor Arnold Pracht von der Hochschule Esslingen beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Inklusion und zweifelt an manchen Darstellungen, die sagen, dass Menschen mit Behinderung in der DDR viel besser in die Gesellschaft eingegliedert gewesen seinen: „Häufig wird geschrieben, dass Menschen mit Behinderung tadellos in den ersten Arbeitsmarkt integriert gewesen sind. Andere Beobachtungen sagen, dass sie in Fabriken eher in irgendwelche Ecken gesetzt wurden und sich dort selbst beschäftigen konnten, anstatt produktiv tätig zu werden.“ Er vermutet, dass die rosigen Darstellungen an der Ideologie der Sozialisten liegen, in deren Weltbild Unterschiede im Umgang mit Menschen mit und ohne Behinderung keinen Platz hatten.

Mehr Rechte für Kinder mit Behinderung

1994: Die 1994 von der UNESCO abgegebene Salamanca-Erklärung ist bis heute wegweisend für die internationale Bildungspolitik. Damit haben sich die Vereinten Nationen (United Nations/UN) dazu bereiterklärt, Kindern unabhängig ihrer geistigen, psychischen oder physischen Fähigkeiten den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Auch wenn die 195 Mitgliedsstaaten die Erklärung abgegeben haben, ist die Praxis im Umgang mit behinderten Menschen weit von den Zielen entfernt. „Ich weiß von südamerikanischen Ländern, in denen man sich häufig für behinderte Familienmitglieder schämt. Manche fristen den Großteil ihres Lebens im Schrank bei den Eltern, was mit einem menschenwürdigen Leben nichts zu tun hat“, sagt Professor Arnold Pracht, Inklusionsexperte an der Hochschule Esslingen. Die Salamanca-Erklärung verspricht nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern allen Kindern das Grundrecht auf Bildung. Wörtlich heißt es, dass dabei alle „Kinder von entlegenen oder nomadischen Völkern, von sprachlichen, kulturellen oder ethnischen Minoritäten sowie Kinder von anders benachteiligten Randgruppen oder -gebieten“ eingeschlossen sind.

UN-Behindertenrechtskonvention

2008: Was 1994 mit der Salamanca-Erklärung als Absicht skizziert wurde, nahm mit der 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention konkretere Formen an. Neben der erneuten Bekräftigung, dass Menschenrechte auch für Menschen mit Behinderung gelten müssen, geht es vor allem darum, diese nicht länger als Kranke zu betrachten sondern als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. In acht Punkten haben sich die Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, dass die weltweit 650 Millionen Menschen mit Behinderung eine gute Bildung, barrierefreie Fortbewegung, Möglichkeiten zu einem selbstbestimmtem Leben, Arbeit, Zugang zu Informationen, eine angemessene Gesundheitsversorgung, politische Rechte wie das Wahlrecht, und Entscheidungsfreiheit erhalten sollen. Die Konvention kann als bisheriger theoretischer Höhepunkt des Leitbilds der Inklusion verstanden werden – nirgends wurde ein zeitgemäßer Umgang mit behinderten Menschen genauer formuliert als in den 50 Artikeln der Erklärung, die alle Lebensbereiche betreffen.

Lebenswirklichkeit heute in Deutschland


Auch wenn die Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderung in der UN-Behindertenrechtskonvention ausformuliert ist, wird es noch lange dauern, bis der Leitfaden in die Realität umgesetzt sein wird. Noch immer führen die meisten Menschen mit Behinderung ein benachteiligtes Leben. Besonders der knappe Wohnraum und der damit verbundene Mangel an Privatsphäre stellen ein großes Problem dar. „Auch wenn wir finanziell verglichen mit anderen Ländern sehr viel tun, herrscht hier bei uns weiterhin Nachholbedarf“, sagt Professor Arnold Pracht von der Hochschule Esslingen.

Interviews

Rosemarie Plattenhart

Jahrgang 1949, lebt bei der Lebenshilfe Esslingen, besucht gerne Feste und kocht gerne mit ihrem Mann

1974 hat die 3. Novelle des Bundessozialhilfegesetzes den Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung geöffnet. Das Leben der Rosemarie Plattenhart zeigt, wie wichtig das war – besonders dann, wenn es nur wenig oder gar keinen Rückhalt in der Familie gab. „Heute lebt die 67-Jährige mit ihrem Mann zusammen und werde betreut“, sagt Rosemarie. Soziale Kontakte hat sie bis 1998 überhaupt nicht gepflegt. Erst die Arbeit in einer Behindertenwerkstatt hat die Frau, die von einer ehemaligen Betreuerin damals als „wildes Tier“ bezeichnet wurde, den Weg in die Gesellschaft geebnet.

Ja, sie kann ziemlich böse werden, sagt Rosemarie. Das komme aber nur noch selten vor. Mittlerweile, das bestätigt auch ihre Betreuerin Angelika Lahres, kommt Rosemarie besser mit anderen Menschen aus. Warum das nicht immer so gewesen ist, erklärt sich an ihrer harten Kindheit, an die sie sich tapfer zurückerinnert.

Rosemarie zeigt auf ein Bild, das sie als kleines Mädchen 1953 mit einem Schäferhund zeigt. „Der hat mir nix gemacht“, sagt sie. Anders als ihr Stiefvater, der sie nur geschlagen habe. Und aus ihrer geliebten Puppenstube einen Hasenstall gemacht hat. Auch mit den anderen Kindern im Kindergarten hat sie keine guten Erfahrungen gemacht: Die haben mich nicht mitspielen lassen“, erinnert sie sich. Rosemarie hat darauf auf ihre Art reagiert: „Ich habe die anderen Kinder gebissen“, sagt sie.

Dass Rosemarie Plattenhart eine geistig Behinderung hat, hat damals niemand registriert. Auch in der Schule zunächst nicht, obwohl sie weder Lesen, Schreiben oder Rechnen gelernt hat. Auf das Drängen einer Tante hin kam Rosemarie in einer Einrichtung der Diakonie unter, in der sie sich jedoch eingesperrt fühlte; der Umgang mit Behinderten damals ist mit dem heutigen nicht zu vergleichen. Ziel war eher die Grundversorgung als die Förderung von Betroffenen.

Das führte dazu, dass Rosemarie zurück zur Mutter zog, die den Hausmeisterjob in einem Jugendhaus erledigte. Dasselbe Jugendhaus, dass Betreuerin Lahres als Heranwachsende besuchte. „Von Rosemarie habe ich damals nie etwas mitbekommen“, sagt sie. Auch nicht, wenn die öffentlichkeitsscheue Frau damals gegen die Wand geschlagen hat, wenn die anderen Jugendlichen dort Partys feierten.

Rosemarie putzte alleine, wenn alle weg waren. Jahrzehnte lang, bis zum Tod der Mutter. Wieder war es die Tante, die sich 1998 um ihre isolierte Angehörige kümmerte. So kam Rosemarie zur Lebenshilfe. „Hier begann mein soziales Leben“, sagt sie. Rosemarie arbeitete zum ersten Mal nicht alleine mit Putzlumpen und Putzeimer, sondern mit anderen in der Werkstätte für Menschen mit Behinderung zusammen.

Seitdem ging es aufwärts für die Frau, die heute einen sehr glücklichen Eindruck macht. Berührungsängste zu anderen Menschen wurden abgebaut. „Bei einem Fußballturnier habe ich meinen Günther kennengelernt“, sagt sie. Günther ist sechs Jahre Jünger als sie und ebenfalls geistig behindert. Hätte Rosemarie auch mit 50 Jahren nicht noch die Chance bekommen, zu arbeiten, hätte sie das Liebesglück womöglich niemals erlebt.

Lisa Fröschle

Jahrgang 1937, lebt bei der Lebenshilfe Esslingen,
guckt gerne Bilder in Programmzeitschriften an und liebt Zuckerwasser

Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten wurden Menschen mit Behinderung im sogenannten Euthanasie-Programm umgebracht, weil sie in den Augen des Unrechtsregimes keinen Wert für die Gesellschaft besaßen. Dabei hat der Krieg gleichzeitig auch viele Deutsche zu Invaliden – das heißt, zu körperlich Behinderten – gemacht. Lisa Fröschle, geboren 1937, war als Frühgeburt zeitlebens geh- und leicht geistig behindert. Ihre Familie hat ihr in der von Krieg geprägten Zeit nicht nur ein Mal das Leben gerettet.

In der Nacht vom 2. auf den 3. März 1944 bombardierten die Alliierten den Stadtteil Nellingen in Esslingen. Bei dem Bombenangriff schlug auch eine Bombe im Haus der heute 79-Jährigen ein, wobei sie mit ihrem Bruder im Kellerbunker verschüttet wurde und ihr Vater ums Leben kam. „Das war schrecklich laut“, erinnert sich Lisa. Da der Vater zuvor als Führungskraft in einer Fabrik aus beruflichen Gründen in die Partei eingetreten war, wie der Bruder sagt, blieben Lisa Fröschle Anfeindungen der Nazis trotz Behinderung erspart. Außerdem sei Lisa „scho immer a zähes Luder gewsesa“, wie ihr Bruder in breitem Schwäbisch erzählt.

Nachdem der Krieg vorbei war, war Lisa Fröschle endgültig aus der Schusslinie der Nazis. Doch auch in der Nachkriegszeit gab es Methoden im Umgang mit Behinderten, die zwar nicht lebensgefährlich, aber rückblickend sehr seltsam wirken. „Wir wussten ja gar nicht, was genau Lisa fehlt“, sagt Rolf Fröschle. Darum habe man seltsamste Therapiemethoden an seiner Schwester ausprobiert, „Silberfolie oder Insekten in Schnaps“, hätten helfen sollen, sie an ihrer Gehbehinderung zu heilen. Haben sie natürlich nicht.

Trotz ihrer Behinderung besuchte Lisa Fröschle die Volksschule – damals vergleichbar mit der heutigen Hauptschule –, wenn sie dort auch keinen Abschluss machte. Lange Zeit hat sie in Behindertenwerkstätten Teppiche geknüpft. Keine wirklich befriedigende Tätigkeit für die damals junge Dame. „Wirklich Spaß gemacht hat das nicht“, sagt sie.

Heute ist Lisa Rentnerin. „Das Arbeiten vermisse ich nur manchmal“, sagt sie. Lisa ist eine sehr bescheidene Person. Eine die kleine Dinge glücklich macht. Lisa greift zum Zuckerstreuer, als sie vor ihrem Mineralwasser sitzt und schüttet es rein. „Heute mache ich mir Zuckerwasser“, sagt sie und grinst dabei, als könnte es in diesem Moment nichts Schöneres geben.

Monika Frick

Jahrgang 1960, lebt bei der Lebenshilfe Esslingen,
liest gerne Programmzeitschriften, schaut Kinderfilme und besucht Konzerte

Wenn Kinder ins Teenageralter kommen, ist es für Eltern, Lehrer, aber auch andere im persönlichen Umfeld nicht ganz leicht, damit umzugehen. Aber was tun, wenn jemand nie aus diesem Alter herauskommt? Bei Monika Frick ist genau das der Fall. Die 56-Jährige hat das sogenannte Martin-Bell-Syndrom. Dadurch sind ihre geistigen Fähigkeiten eingeschränkt und ihr Gemüt sehr jugendlich geblieben. Das erkennt man auch an ihrem bunten Kleidungsstil und ihrer Vorliebe für niedliche Muster.

Bis zu ihrem 15. Lebensjahr hat sich Monika nicht sehr von Gleichaltrigen unterschieden, auch wenn sie eine Außenseiterin war. Bis zur 7. Klasse hat sie eine normale Schule besucht, von einer Behinderung hat damals niemand etwas bemerkt. „Ich war schon geschockt, als ich als junges Mädchen erfahren habe, dass ich nicht normal sein soll“, sagt Monika. Von dieser Unsicherheit ist bis heute einiges geblieben.

Es folgte also der Aufenthalt in einer Sonderschule, den Monika nicht besonders gut verkraftet hat, wie sie sagt. „Mein Berufswunsch als Kind war, Verkäuferin zu werden“, erzählt Monika. In der Behindertenwerkstatt, die später ihr Arbeitsplatz wurde, hätten die anderen nur auf ihr herumgehackt. „Und mein jüngster Bruder hat mich auch nie akzeptiert, wie ich bin.“ Unter all dem hat Monika sehr gelitten.

Geholfen hat Monika vor allem die Kirche. Auch wenn deren Umgang mit Menschen mit Behinderung nicht unumstritten war, da lange Uneinigkeit herrschte, inwiefern man Inklusion gutheißen solle, haben sich sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche mit ihren Hilfswerken Caritas und Diakonie schon lange für die Interessen von Menschen mit Behinderung eingesetzt. In ihrer Gemeinde fühlt Monika sich angenommen – sie hilft bei Gottesdiensten mit, hat eine Aufgabe und man vertraut ihr. Dinge, die nicht nur Teenageralter wichtig sind und Halt geben. Jeden Montag schenkt sie, ebenfalls von der Kirche organisiert, im Jugendhaus Tee aus. „Darauf freue ich mich immer besonders. Ich komme mit jungen Leuten einfach besser aus“, sagt Monika.

Julius Könekamp

Jahrgang 1996, lebt in einer Wohngemeinschaft im Mehrgenerationenhaus, hört gerne Oper und Schlager, mag Mode und Karaoke-Partys

Manchen Eltern von Kindern mit Behinderung wird vorgeworfen, sie nicht altersgerecht zu kleiden – was kein Vorteil ist, wenn es um Inklusion geht. Als Inklusion bezeichnet man die das Eingliederung von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft. Verena Könekamp muss sich solche Vorwürfe nicht gefallen lassen. Ihr Sohn Julius Könekamp hat das Downsyndrom – und ist sehr schick gekleidet: Modische Halbschuhe, eine Lederhose, Dazu ein gemustertes Hemd, das er halboffen über einem T-Shirt trägt. Wobei Verena Könekamp nur ein Teil des Lobs für das Outfit ihres Sohnes gebührt. „Die Sachen hat sich Julius selbst ausgesucht“, sagt sie.

Julius Könekamp ist 19 Jahre alt, vor einigen Monaten von zuhause ausgezogen und macht in einem Mehrgenerationenhaus in Stuttgart eine Ausbildung zur Pflegekraft – für den ersten Arbeitsmarkt. Das heißt, dass Julius nicht in einer Einrichtung speziell für behinderte Menschen arbeiten, sondern in einem ganz normalen Anstellungsverhältnis wie Menschen ohne Behinderung beschäftigt sein wird. „Solange ich meine Ausbildung mache, wohne ich im Internat des Anna-Haag-Hauses in Stuttgart“, sagt Julius. Das Anna-Haag-Haus ist das älteste Mehrgenerationenhaus in Deutschland und wird von einem gemeinnützigen Verein getragen.

Julius befindet sich dort in der Orientierungsstufe. Drei Bereiche stehen zur Auswahl: Hauswirtschaft, Küche oder  Reinigung. Für Julius ist klar, wo er arbeiten will. „Ich will in die Hauswirtschaft“, sagt er. Naheliegend, dass ein so modebewusst gekleideter Kerl wie er Freude am Bügeln und Zusammenlegen von Klamotten hat. Wobei Julius auch von einer Karriere außerhalb von Seniorenheimen träumt.

„Am liebsten würde ich Schlagerstar werden“, sagt er, wobei seine Augen leuchten. Sein Vorbild ist Helene Fischer. Und musikalisch bringt Julius sogar Verständnis mit, das weit über die eingängigen Melodien von Schlagern herausgeht. Julius liebt nämlich auch Opern. „Carmen, die Zauberflöte, Don Giovanni, Turandot, Aida“ – Julius kennt nicht nur die zugehörigen Komponisten wie Wolfgang Amadeus Mozart oder Giuseppe Verdi, sondern kann selbst die einzelnen Arien nach nur ein paar Takten richtig zuordnen. Das können nicht viele 18-Jährige.

An seinen eigenen Gesangskünsten feilt Julius bei Karaoke-Veranstaltungen im Jugendhaus, zu denen auch nicht-behinderte Jugendliche kommen. „Bereits in der Schule habe ich gemischte Klassen besucht, in denen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet wurden“, sagt Julius. Später teilte er sich zumindest den Pausenhof mit allen anderen Kindern. Darum bewegt er sich sozial auch sehr trittsicher, egal in welcher Umgebung er sich wiederfindet. „Ich habe viele Freunde“, erzählt Julius.

Obwohl Julius Könekamp durchaus als Musterbeispiel gelungener Inklusion gesehen werden kann, ist seiner Mutter, Verena Könekamp, klar, dass ihr Sohn es nicht immer einfach haben wird. „Ich akzeptiere und liebe Julius so, wie er ist“, sagt sie, „aber auch wenn er so selbstständig lebt, weiß ich, dass er auf die Unterstützung seiner Eltern angewiesen ist.“

Sein Fall zeigt zwar, dass gesellschaftliche Strukturen Menschen mit Handicap eine große Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen können. Aber auch, wie wichtig familiärer Rückhalt und besonderes Fingerspitzengefühl im Umgang mit behinderten Menschen bleiben und für alle Beteiligten eine Herausforderung darstellen. Eine, die gemeistert werden kann.

Jürgen Kott

Jahrgang 1955, lebt bei der Lebenshilfe Esslingen, geht gerne spazieren, probt Theaterstücke
und mag gesellige Abende

Inklusion oder Nestwärme? Wie man im Fall von Jürgen Kott verfahren sollte, daran haben sich unter seinen Familienmitgliedern die Geister geschieden. Besser gesagt: Erst in der Nachbetrachtung drängt sich die Frage auf, ob Kotts Eltern bis zu dessen Tod oder der Bruder Volkmar Kott, der sich seitdem um den 61-Jährigen kümmert, den richtigen Umgang mit ihm gefunden haben. Als es in den 50er und 60er Jahren noch nicht so viele Anlaufstellen für Eltern mit Kindern mit Behinderung gab, war mehr familiäres Engagement gefragt, als das heute der Fall ist. Die Eltern von dem geistig behinderten Jürgen Kott haben jedenfalls ihren Beruf beim öffentlichen Nahverkehr zugunsten von Hausmeistertätigkeiten an zwei Schulen aufgegeben, um ihn besser betreuen zu können.

Volkmar Kott, der Halbbruder, macht dem gemeinsamen Vater und Jürgen Kotts Mutter zwar keine Vorwürfe, findet in seiner Nachbetrachtung aber, dass man seinem Bruder durchaus etwas mehr Selbstständigkeit hätte zutrauen können.

„Ich lebe heute in einer betreuten Wohngruppe“, sagt Jürgen Kott. Die meisten Alltagsangelegenheiten bekommt er weitgehend selbst gemeistert. „Ich wusste zwar, dass ich einen Halbbruder habe, habe Jürgen aber nie wirklich kennengelernt“, erinnert sich Volkmar Kott. Zum leiblichen Vater hatte er über drei Jahrzehnte praktisch keinen Kontakt und dementsprechend fielen Besuche eher selten aus. „Mein Vater und Jürgens Mutter haben später dann bei gelegentlichen Besuchen immer für Jürgen geantwortet, wenn ich ihn etwas gefragt habe“, so Volkmar Kott weiter. Zum Aufbau einer Beziehung sei es darum lange nicht gekommen.

Eines Tages habe dann das Telefon geklingelt: „Am Apparat war ein Arzt. Der Arzt wollte Jürgen in ein Altenheim einweisen, was ich verhindert habe, weil dies ganz sicher nicht den Vorstellungen seiner Eltern entsprochen hätte. Ich hatte deshalb zunächst eine Notarin formell beauftragt, eine Betreuung zu bestimmen und sie war es dann, die mir den Vorschlag machte, über eine Betreuung nachzudenken, nachdem innerhalb Jürgen’s Familie sich niemand bereit fand, dies zu übernehmen. Einige schlaflose Nächte folgten. Mit dem Ergebnis, dass Volkmar Kott sich entschied, sich dem ihm damals fast vollständig fremden Halbbruder anzunehmen.

Jürgen Kott hatte bis zu seinem 50. Geburtstag fast das ganze Leben in Obhut der Eltern verbracht. Auf den ersten Blick fehlte es ihm an nichts: Man ging mit ihm spazieren, man gab ihm ordentlich zu essen, man badete ihn regelmäßig. Aber man traute ihm auch nichts zu. „Die meiste Zeit bei meinen Eltern habe ich ferngesehen“, sagt Jürgen. „Als ich sein Zimmer nach dem Tod der Eltern sah, wirkte es wie das Kinderzimmer eines Kleinkinds“, ergänzt der Bruder. Dementsprechend war es auch um die Fähigkeiten von Jürgen Kott bestellt.

Nie hatte er gelernt, Dinge selbstständig zu erledigen. Doch das änderte sich im betreuten Wohnen nach und nach. „Ich bin wahnsinnig stolz auf meinen Bruder, wie er so spät noch gelernt hat, mit dem Alltag klarzukommen.“ Heute kauft Jürgen Kott selber ein, wäscht sich selbst, erledigt Dienste in der Wohngemeinschaft, arbeitet in einer Schreinerei einer Behindertenwerkstatt und wirkt sogar in Theatergruppen mit. Das ist bemerkenswert, aber war deswegen der Umgang mit den Eltern falsch mit ihm? Das ist ein Urteil, das wohl nur der Betroffene selbst fällen kann: „Es war damals schon schön, aber heute bin ich froh, mehr Abwechslung zu haben. Ich habe keine schlechten Erinnerungen an damals, wünsche mir die Zeit aber auch nicht zurück.“

Wieso echt behindert?

Menschen mit Behinderung sind im Alltag immer noch wenig präsent. Das bietet Raum für Vorurteile. Wir wollen deswegen  Aufklärungsarbeit leisten und Berührungspunkte schaffen.

Dabei ist uns wichtig, auf Augenhöhe zu argumentieren und wir wollen au ch nicht oberlehrerhaft rüberzukommen. Außerdem wollen wir unser Anliegen unterhaltsam und leicht verständlich, gerne auch provokativ – wie der Name der Initiative, nämlich „echt behindert!“.